Nun als Voll-rentnerin konnte ich zum ersten Mal in unserem europäischen Winter nach Bolivien aufbrechen. So startete ich mitten im kalten Februar, in Begleitung von drei Studentinnen aus Freiburg, Mira, Svenja und Anna. Es war mein bereist 9. Bolivieneinsatz.
Dem kalten deutschen Winter entweichen, Wärme in Santa Cruz de la Sierra tanken, das war so richtig nach unserem Sinn.
Angedacht war als erstes ein 10 tägiger zahnärztlicher Einsatz in der tropischen Millionenstadt Santa Cruz, danach Arbeiten im rauen Gebirgsklima von Challa/ Isla del Sol in 4000 m, in unserer eigenen Praxis, die wir (Dentist-and-Friends) im Jahr 2013 einweihen konnten.
Santa Cruz empfing uns mit seiner typisch tropischen Hitze, die wir aber alle begierig in uns aufsaugten.
Raus aus den Winterklamotten, rein in die Shorts und Sandalen! Wie herrlich, darauf hatten wir uns Zuhause schon am meisten gefreut. Schon am nächsten Morgen ging es hinaus zu unserem Einsatzort im Elendsviertel / Los Lotos von Santa Cruz.
Täglich brachte uns ein Taxi in einer halbstündigen Fahrt durch die Slums dorthin. Öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen war nicht möglich. Wir hätten zig-mal umsteigen müssen und hätten viel wertvolle Zeit für unseren Hilfseinsatz verloren. Zudem sind Taxis in Bolivien durchaus erschwinglich.
In der Plataforma solidaria, dem Kinderzentrum, war alles für uns bestens vorbereitet. Die Patienten warteten schon sehnsüchtig auf uns. Auch hatten wir inzwischen in Dental-shops alle fehlenden Verbrauchs-Materialien, wie Handschuhe, Mundschutz, Desinfektionsmittel, einkaufen können. Sogar ein neues Winkelstück hatten wir überraschend günstig für die Plataforma solidaria besorgen können (für nur 40,- €!). Das notwenige Füllungsmaterial hatten wir, großzügiger Weise von VOCO gespendet, aus Deutschland mitgebracht.

Was ist diese Plataforma solidaria in Santa Cruz, wo wir mit unserer Arbeit begannen? Es handelt sich um ein soziales Jugendzentrums in einem Elendsviertel von Santa Cruz, namens Los Lotos. Sie wurde 2008 von einem Spanier gegründet. Er leitet es noch heute. Ziel seines Projektes ist, das Leben der Kinder und Jugendlichen, die meist aus sehr schwierigen familiären Verhältnissen stammen, zu verbessern und ihnen eine Chance auf eine gute Zukunft zu geben. Hier bekommen die Kinder täglich nach der Schule ein warmes Mittagessen (oft die einzige vernünftige Mahlzeit am Tag) und Hausaufgabenbetreuung. Außerdem können sie an sportlichen oder musischen Aktivitäten teilnehmen. Angeschlossen ist auch ein Kindergarten für die ganz Kleinen. Für die Eltern schließlich werden verschiedene soziale Angebote, wie zum Beispiel Kochkurse und Gesundheitsaufklärung, angeboten.
Dank der finanziellen Unterstützung durch unseren Verein Dentists- and- Friends konnten wir im Frühjahr 2017 erfolgreich die Renovierung eines dort vorhandenen, sehr antiquarischen Zahnarztstuhles abschließen und seitdem auch hier den Ärmsten unter den Armen gratis unsere zahnmedizinische Hilfe anbieten.
Auch wenn das consultorio sehr eng, heiß und laut war, der Andrang der Patienten nicht nachlassen wollte, gereichte uns dort die Arbeit zur größten Zufriedenheit. Wir leisteten zufriedenstellende Arbeiten und waren somit gefragt und verehrt.
In der Mittagspause ließen wir die Schulkinder gruppenweise und spielerisch sich selbst gegenseitig „behandeln“, nachdem wir alle gemeinsam intensiv das Zähneputzen mit den mitgebrachten Zahnbürsten eingeübt hatten.
Herrliches Sommerwetter, dankbare Patienten, unser Glück hätte perfekt sein können. Aber dann kam die eigentlich schon längst erwartete Hiobsbotschaft, dass wir den geplanten 2. Teil unseres Einsatzes tatsächlich nicht auf der Sonneninsel im Titicacasee verbringen könnten.
„Längst erwartet“, weil ja auch schon das Zahnärzteteam, das vor uns im Januar auf die Insel wollte, von den Inselkommunen totales Einreiseverbot erhalten hatte. Der Streit war eskaliert, indem nun die Einheimischen nach einem fast anderthalb jährigen Konflikt, sogar Dynamitstangen als Waffen im Kampf einsetzten. Eskaliert war der Streit, weil die Konflikte jetzt vor Gericht in Sucre, der konstitutionellen Hauptstadt Boliviens, mit Sitz des obersten Gerichtshofs, geschlichtet werden sollten. Statt Schlichtung dann Eskalation!
Es geht eigentlich mal wieder allein ums liebe Geld, das die Touristen einbringen und welches nicht gleichmäßig in den kleinen Kommunen ankommt.
Da im Vorhinein unsicher war, ob wir auf unsere Insel könnten, hatte Hostelling International Bolivia (HIB), unsere Partnerorganisation vor Ort, schon im Vorfeld für unser Team nach einem günstigen Einsatzort Ausschau gehalten, an dem wir auch sinnvolle Arbeit tätigen könnten.
So holperten wir also nach 10 Tagen mit einem klapprigen Überlandbus ab Sucre über 6 Stunden die 222 km an das "Ende der Welt", nach El Villar. Hier endet nämlich die un-asphaltierte Landstraße. Weiter geht es nur noch zu Fuß!
El Villar ist ein winziges Städtchen mit etwa 4500 Einwohnern im Departamento Chuquisaca, im Südteil von Bolivien. Es liegt etwas über 2000m hoch und hat ein gemäßigtes Klima, umgeben von den Bergen der Vor-Anden.
Hier hatte ich schon in den Jahren 2010, 2011 und 2012 mit der einzigen, etwas antiquarischen Einheit des einfachen Krankenhauses gearbeitet. Wir wurden freudig begrüßt, denn man hatte mich, und vor allem meine tollen VOCO- Materialien, noch in bester Erinnerung. Und dazu noch die Aussicht, dass wieder alle Behandlungen gratissein werden!
Da wir zu viert angereist waren, sich dort aber nur ein einziger und ziemlich maroder Stuhl befand, verlagerten wir unsere Tätigkeit am Vormittag vor allem auf Präventionsarbeit in der Schule (etwa 500 Schüler). Wir hatten genug Zahnbürsten (500 Stück) und Pasta mitgebracht und schruppten und putzen intensiv mit den Schülern. Unermüdlich hielten wir unseren Mundhygiene-Vortrag und fluoridierten die wenigen gesunden Zähne.
Die Schüler machten begeistert mit, aber ob sie nach unserer Abreise weiterhin so schön ihre Zähne putzen werden?
Wichtig war uns auch, dass wir die jungen Menschen überzeugen konnten, dass man nicht erst zum Zahnarzt gehe, wenn es erheblich schmerzt, sondern prophylaktisch, zumindest einmal im Jahr, eine Kontroll-Untersuchung über sich ergehen lassen sollte.
Am Samstag den 10. März reisten wir aus Chuquisaca / El Villar ab. In gut zwei Wochen hatten wir im Hospital aber insgesamt nur 55 Patienten behandelt. Mit schuld an der geringen Patientenzahl war unter anderem auch, dass die letzten drei Tage die uralte Behandlungseinheit im Hospital ihren Geist völlig aufgab.
In Santa Cruz waren wir, was die Patientenzahlen anging, wesentlich fleißiger gewesen.
Nach diesem 2-wöchigem Aufenthalt in El Villar, im Süden von Bolivien, trennten sich in Sucre unsre Wege. Die drei Studentinnen brachen zu ihrer Südamerika-Rundreise auf, während ich nach La Paz/ El Alto hinaufflog. Hier war es dann sofort empfindlich kühler (4000m) und der Traum vom vorgezogenen Sommerwetter war aus.
In La Paz empfing ich unser Nachfolge-Team, zwei junge Zahnärztinnen aus Marburg. Sie hatten inzwischen auch schon ihre 2 Wochen Santa Cruz erfolgreich und sehr zufrieden hinter sich gebracht. Nun mussten sie, wie wir in einem anderen Hilfs-Projekt untergebracht werden. Natürlich durften auch sie nicht auf unsere wunderschöne Insel im Titicacasee.
Man hatte von HIB ein Hospital in El Alto ausgeschaut, das Hospital“ Boliviano- Japonés.

Das Hospital in El Alto ist ein Krankenhaus für die ganz Armen, ein sogenanntes Hospital der 3. Stufe (tercer nivel), vom Staat finanziert. Wir waren schockiert in welchem Zustand sich dort die zahnärztliche Einheit befindet. Sie war ja noch viel schlimmer als jene in El Villar. Den Stuhl selbst konnte man nur per Hand in verschiedene Positionen „fahren“, das Licht war eine Funzel von gerade mal 10 Watt, der Turbine fehlte die notwendige Wasserkühlung, der Sauger war defekt. Gut, wozu auch Sauger, wenn keine Wasserkühlung geht. Bei einer Umdrehungszahl der Turbine von 400.000 pro Sekunde haben Zähne eigentlich eine Kühlung gern, sicherlich auch bolivianische Zähne.
Ein Desinfektionsbad gab es nicht, es wäre zu teuer. Kurzum es fehlte an allen Ecken und Enden, um zufriedenstellend behandeln zu können. Warum dieser desolate Zustand? Wir bekamen immer dieselbe Antwort: es fehlt das Geld vom Staat, im Gegenteil, die Zuschüsse werden immer noch mehr gekürzt.
Arme Bolivianer! Gottlob hielt sich der Patientenansturm sehr in Grenzen.
Ich war froh, dass ich nach einigen Tagen diesem Elend entfliehen konnte. Mein zahnärztlicher Einsatz neigte sich nach fünfeinhalb Wochen dem Ende zu und ein paar ruhige Tage mit Besuch bei Freunden in Kolumbien waren angesagt.
Die beiden jungen Zahnmedizinerinnen, Kristin und Nadine ließ ich traurig zurück. Sie haben, wie sie mir später berichten, aber alles tapfer „durchgestanden“ und letztendlich mit viel Improvisationstalent auch erfolgreich behandelt.
Summa summarum war es wieder sehr erlebnisreich und abenteuerlich. Nicht alles war dieses Mal perfekt, aber ich habe doch einige neue und gewinnbringende Erfahrungen machen dürfen.
Die Ersatz-Einsatzorte waren längst nicht so schön wie die unvergleichliche Sonneninsel im Titicacasee, aber alles ist immer für irgendetwas gut. Dank des Streites auf der Insel haben wir nun viele Kinder in El Villar beglücken und vielleicht den ein oder anderen motivieren können, auch weiterhin mehr auf seine Zähne zu achten.
Und mit El Alto wissen wir jetzt, dass man sich tunlichst davor hüten sollte, sich in einem Hospital des „tercer nivel“ in Bolivien behandeln zu lassen.
Auch wissen wir jetzt noch mehr unsere gut ausgestattet Praxis in Challa zu schätzen. Gegenüber den desolaten Praxen in den Hospitälern haben wir dort oben Luxus pur.
Jetzt hoffe ich, dass ich im Februar 2019 wieder nach Bolivien reisen kann und wir dann auch wieder in unserer eigenen schmucken Praxis in Challa/ isla del sol behandeln dürfen.
Ein Bericht von Dr. Annette Schoof-Hosemann