Während unseres Staatsexamens fingen wir an, mit einer Auslandsfamulatur als frisch examinierte Zahnärztinnen zu liebäugeln. Nur zu gern haben wir uns durch all die verschiedenen Erfahrungsberichten auf der Seite des ZADs vom Lernen ablenken lassen. Nach dem Ende der Prüfungsphase wollten wir dieses Projekt ernsthafter angehen und fingen mit den Planungen an. Die Wahl der Organisation sollte wohl überlegt sein. Uns war relativ schnell klar, dass es nach Lateinamerika gehen soll, damit wir selbst mit den Patienten auf Spanisch kommunizieren können. Durch den ZAD sind wir schließlich auf Annette und ihre „Dentists für Bolivien“ gestoßen. Uns reizte sofort, dass man hier in zwei Stationen arbeiten kann, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Schnell nahmen wir Kontakt auf und wurden sofort mit einer Fülle weiterer Informationen versorgt. Nach einigen E-Mails lud uns Annette in die Casa Schoof-Hosemann ein. Wir zögerten nicht lange und machten uns auf in das knapp 400km entfernte Baden-Baden. Mit Annette haben wir uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Sie hat uns noch viel über das Projekt und Bolivien erzählt, Fotos gezeigt und spätestens nach ihrer leckeren bolivianischen Sopa de Maní hatte Annette uns endgültig überzeugt: Wir wollten Teil ihres Projekts werden und in Santa Cruz de la Sierra, sowie auf der Isla del Sol unser Bestes geben und den Menschen mit ihren zahnmedizinischen Problemen helfen. Vorweg können wir sagen, dass es die beste Entscheidung war, unsere Famulatur genau dort zu verbringen.
Im Vorfeld haben wir noch versucht unser eingerostetes Schulspanisch aufzubessern, kümmerten uns um die Gelbfieberimpfung und packten schließlich unsere Koffer, um im Juni endgültig gen Bolivien aufzubrechen. Eine Reisetasche voller gespendetem Spielzeug und Geschenken für unsere kleinsten Patienten sollte mit von der Partie sein.
Angekommen in Santa Cruz wurden wir von unserem Taxifahrer mittels des Schildes „Doctoras Klein y Smit“, in Empfang genommen, was uns direkt einen Kopf größer werden ließ, da wir doch eigentlich noch mitten in der Doktorarbeit stecken. Direkt am selben Tag holte uns Nacira (wahrscheinlich die liebste Person in ganz Santa Cruz) ab, um uns unseren Arbeitsplatz für die nächsten zwei Wochen zu zeigen. Es ging zum ersten Mal in die Plataforma solidaria. Die Plataforma solidaria ist ein Kinderzentrum mit integriertem Kindergarten. Nach der Schule werden für die Kinder eine warme Mahlzeit, Hausaufgaben-betreuung und sportliche Aktivitäten angeboten.
Als Erstes begrüßte uns ein selbstgemaltes Plakat, das auf unsere Ankunft und Behandlungszeiten aufmerksam machte. Ronald, der Leiter Einrichtung, nahm uns herzlich in Empfang und zeigte uns das kleine Behandlungszimmer. Sehr zu unserer Freude wurde im Vorfeld etwas renoviert und der Raum strahlte im neuen Glanz: es wurden Wandfliesen angebracht.
Nachdem wir uns kurz zurechtfinden konnten, lud Nacira uns prompt zum Essen in der Stadt ein. In Bolivien kann man oft zu riesigen Fleischstücken vier oder fünf Beilagen auswählen. Und lasst euch gesagt sein: auch wenn ihr großen Hunger habt, die Portionen sind größer!
Nach dieser Stärkung sind wir noch in ein Dentaldepot gefahren, um die letzten fehlenden Dinge wie Handschuhe und Servietten zu besorgen. Uns erstaunt immer noch, wie die Verkäuferin alle möglichen Dentalmaterialien in diesem winzigen Geschäft aufbewahren konnte.
Nachdem wir nun vollständig ausgerüstet waren, konnten wir das Wochenende nutzen, um Santa Cruz kennenzulernen. Wir befolgten Annettes Tipps und konnten die Fauna Südamerikas im Zoológico Municipal kennenlernen und uns im Wasserpark Guembe vor der ersten Arbeitswoche entspannen.
Am darauffolgenden Montag war es nun endlich soweit: unsere Famulatur konnte beginnen. Um 8:30 wurden wir von Nacira abgeholt und direkt in Gespräche auf Spanisch verwickelt, damit wir schonmal ein bisschen in den Dialekt der Cruzener reinschnuppern konnten. Angekommen, richteten wir uns schnell unseren Arbeitsplatz ein und legten die wichtigsten Instrumente und Materialien bereit, bevor sich die erste kleine Patientin auf den Stuhl setzte. Und was sollen wir sagen?
Der erste Anblick der zerstörten Milchzähnchen hat uns – um ehrlich zu sein – ziemlich geschockt. Annette hatte uns zwar vorgewarnt, aber diesen Zustand selbst zu sehen war dann doch noch etwas ganz anderes. Bei den nächsten Kindern bot sich (fast) immer das gleiche Bild: tiefzerstörte Milchmolaren und erste bleibende Molaren, sowie Karies an der Oberkieferfront. Wir mussten schnell lernen zu entscheiden, welche Zähne man noch mit einer Füllung retten konnte und für welche jede Hilfe zu spät kam und nur noch eine Extraktion möglich war. Wurzelkanalbehandlungen konnten auf Grund eines fehlenden Röntgengeräts generell nicht angeboten werden.
Besonders gefreut haben wir uns, wenn wir gerade durchgebrochene 6Jahres-Molaren fanden, und diese durch eine Fissurenversiegelung schützen konnten – ein wichtiger Baustein der Kariesprävention, wie wir finden. Unser español wurde von Behandlung zu Behandlung sicherer. Schnell prägten sich ein paar Floskeln ein und die Aufforderung, den Mund offen zu halten – un poco mas por favor – wurde zum am häufigsten verwendeten Satz.
Wenn wir doch mal nicht weiterkamen, konnten wir auf die Hilfe von Jana und Valentina, zwei deutschen Voluntarios, die in dem Kinderzentrum arbeiteten, zählen. Die beiden kümmerten sich auch darum, dass nach jedem Mittagessen an alle Kinder Zahnbürsten und Zahnpasta ausgeteilt wurden. Ein toller Ansatz um die Mundhygiene zu fördern. Allerdings kamen manche Kinder auffällig schnell von der Putzstation draußen auf dem Hof wieder zurück.
Bei der Arbeit mit unserer zahnmedizinischen Einheit war immer wieder Improvisationstalent gefordert. Mal fiel der Kompressor aus, mal der Sauger. Schnell haben wir aufgegeben, den Stuhl bewegen zu wollen. Alles in allem leistete er uns aber ganz gute Dienste.
Der erste Tag verlief nach dem ersten Schock relativ entspannt für uns, es war zwar ein durchgängiger Patientenfluss bei uns, aber es bildete sich keine Schlange. Dies sollte sich in den nächsten Tagen ändern. Nachdem sich die Nachricht über unsere kostenlosen Behandlungen etwas herumgesprochen hatte, und auch viele erwachsene Patienten das Angebot nutzen wollten, war stets eine kleine Ansammlung von Patienten vor unserem Behandlungsraum zu finden.
Mit Ronalds Hilfe entwickelten wir ein Terminsystem, welches Patienten bevorzugte, die schon einmal hatten warten müssen. Wir gaben zwar unser Bestes, verkürzten unsere Mittagspause und verlängerten unseren Einsatz abends, konnten den Patientenansturm aber kaum bewältigen. Mittags nahmen wir immer im großen Essensraum zwischen den Kindern Platz und eine Sopita (in 2 Wochen lernt man, wie viele verschiedene Einlagen man in eine Hühnersuppe machen kann, um Variation vorzutäuschen), gefolgt von einem Segundo zu uns.
Nach den zwei Wochen in der Plataforma solidaria können wir auf eine Vielzahl von Füllungen, Extraktionen, Fissurenversiegelungen und Fluoridierungen zurückblicken. Erstaunlicherweise haben wir in der zweiten Woche dann doch noch ein 10jähriges Mädchen gefunden, bei der an keinem Zahn eine kariöse Läsion zu finden war. Eine echte Rarität!
Am Himmelfahrtswochenende gingen wir dann vielen touristischen Aktivitäten nach und näherten uns immer mehr dem Titicacasee und der Isla del Sol. Zunächst erkundeten wir Sucre, eine Kolonialstadt, die uns mit ihren komplett weißen Fassaden verzaubert hat. Danach reisten wir nach Potosí, um die aktive Silbermine im Cerro Rico zu besichtigen. Zugegeben, uns war schon mulmig, wenn wir auf allen Vieren durch enge Gänge krabbelten und Explosionen in einiger Entfernung hörten, trotzdem war es eine einmalige, interessante Erfahrung. Das absolute Highlight folgte: der Salar de Uyuni. Die unglaublich große Salzwüste versetzt uns noch heute in Schwärmereien – ein absolutes Muss für jede Bolivienreise.
In La Paz lernten wir Victor kennen und statteten uns mit seiner Hilfe für unseren Einsatz auf der Isla del Sol aus. Auf unsere zweite Station haben wir uns vorher schon besonders gefreut. Auf der Isla del Sol gibt es keine zahnmedizinische Versorgung, nur wenn Annette ein Team für begrenzte Zeit auf die Insel entsendet, haben die Inselbewohner die Möglichkeit sich behandeln zu lassen. Andernfalls bleibt nur die Überfahrt aufs Festland. Nelson, unser Gastgeber, setzte mit uns, seiner kompletten Familie und Lebensmitteln für zwei Wochen in einem kleinen Boot auf die Isla über. Wir fühlten uns sofort wohl bei Familie Mamani. Unser Zimmer hatte direkten Seeblick und so konnten wir einige wunderschöne Sonnenaufgänge über dem Wasser mitansehen. Täglich wurden wir gut von Nelson und seiner Frau Sol versorgt.
Am ersten Tag begleitete uns Nelson noch auf unserem knapp zwanzigminütigen Weg den Berg hoch zu unserer Praxis. Er erklärte uns die Anwendung des Kompressors ließ uns dann aber alleine, damit wir uns vorbereiten konnten. Auch hier legten wir uns die wichtigsten Materialien bereit, aber anders als in Santa Cruz, hat man wirklich viel Platz. Die Praxis ist geräumig und ziemlich gut ausgestattet. Es dauerte nicht lange, und die ersten Kinder wurden auf uns aufmerksam. Es waren gerade Schulferien, so dass sie die viele Zeit liebend gern bei uns verbrachten. Es wurde Fußball gespielt, viel gemalt, UNO und Schwarzer Peter gespielt. Wenn kein Patient da war, haben wir uns auch gerne zum Spielen einspannen lassen oder mit den Kindern Zahnputzübungen gemacht. Auf der Insel war der Patientenandrang geringer als zuvor in Santa Cruz.
Es gab Tage, an denen wir die Patienten ohne Pause auf den Stuhl setzen konnten, aber es gab leider auch Tage, an denen nicht ganz so viel los war und sich nur ein paar Patienten behandelt haben lassen.
An diesen Tagen konnten wir dafür das rege Treiben vor unserer Praxis beobachten. Schafsherden, Kühe und Esel mit viel Gepäck wurden täglich an unserer Tür vorbei getrieben. Man fühlte sich so einige Jahre zurück in die Vergangenheit versetzt, was unseren Aufenthalt so besonders gemacht hat. In der zweiten Woche war unsere Praxis gut besucht und auch Patienten aus den anderen beiden Dörfern Yumani und Challa-Pampa haben den Weg zu uns gefunden. Am Ende der Famulatur liefen wir durch unser Dörfchen Challa und wurden des Öfteren mit „Buenos dias doctoritas“ begrüßt!
Auf der Insel haben wir Patienten jeden Alters behandelt, was echt abwechslungsreich war. Schnell waren wir mit den kleinen Tücken der Einheit vertraut und konnten gut mit ihr arbeiten. Von Extraktionen, über Füllungen und Fissurenversiegelungen zu Fluoridierungen war wieder alles dabei. Unser kniffligster Fall war mit Sicherheit ein Milchzahnabszess bei einem dreijährigen Jungen oder eine Frau, welche kein Wort spanisch, sondern nur Aymara sprach und wir uns erst Übersetzungshilfe von der netten Nachbarin holen mussten. Auch wenn alle Patienten dankbar waren, dass wir ihnen die kostenlose Behandlung ermöglicht haben, hat uns doch oftmals die Einstellung erstaunt. Viele der Inselbewohner wünschten eine Extraktion von tief zerstörten schmerzenden Zähnen, wollten aber unbedingt den Wurzelrest oder abgebrochenen Zahn daneben trotz des davon ausgehenden Risikos behalten, „der tut ja nicht weh“. Ein Phänomen, das wir leider häufiger beobachten und schließlich auch hinnehmen mussten.
Am Wochenende erkundeten wir die Insel und wanderten in den etwas touristischeren Süden, sowie zu einer gut erhaltenen Inka-Stätte im Norden. Wir waren nicht nur in den Gemäuern alleine, sondern auch auf dem Inka-Pfad, der sich längs der atemberaubenden Insel erstreckt und durch wunderschöne unberührte Natur führt.
Nach unserer wunderbaren Famulatur für „Dentists für Bolivien“ sind wir nochmal nach La Paz zurückgekehrt. Danach reisten wir noch für dreieinhalb Wochen durch das facettenreiche Nachbarland Peru.
Nach insgesamt neun Wochen mussten wir uns von unserem liebgewonnenen Lateinamerika verabschieden. Wir konnten wahnsinnig viele Erfahrungen sammeln, gerade auch in der Behandlung von Kindern. Wir haben viele tolle Menschen und eine einzigartige Natur kennengelernt. Durch den engen Kontakt zu den Bolivianern konnten wir sehr gut in die Kultur eintauchen und etwas der Latino-Leichtigkeit verinnerlichen. Das alles haben wir mit nach Deutschland genommen.
Wir können allen Zahnmedizinstudenten und Zahnärzten, die Interesse haben, einen ganz neuen Blickwinkel auf den zahnmedizinischen Alltag zu erhalten, eine Famulatur in Bolivien wärmstens empfehlen.
Abschließend möchten wir uns ganz herzlich bei vielen Menschen bedanken, die unsere Famulatur möglich und vor allem einzigartig schön gemacht haben. Von ganzen Herzen danken wir Annette, die dieses Projekt ins Leben gerufen hat, uns gut auf das Abenteuer vorbereitet hat, und auch während der Famulatur immer für Fragen zu erreichen war. In diesem Projekt steckt so viel Herzblut von ihr, dass wir uns freuen, sie mit unserer Arbeit unterstützen und Teil des Teams werden zu können. Ein weiteres Dankeschön geht an Max Steiner von Hostelling International Bolivia, welcher uns alle organisatorischen Dinge für unsere Famulatur in Bolivien abgenommen hat. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Nacira und Victor, die unsere Arbeit so gut vorbereitet haben und uns geholfen haben, uns zurecht zu finden. Danke an Nelson und Sol für eine unglaubliche Zeit auf der Isla der Sol.
Ebenso danken wir der Firma VOCO, für die gespendeten Füllungs- und Fluoridierungmaterialien, ohne die unser Einsatz nicht möglich gewesen wäre. Außerdem möchten wir uns auch bei den Erziehern und Eltern der Kindertagesstätte Regenbogen in Bad Westernkotten bedanken, die eine ganze Reisetasche voll von Spielzeug und kleinen Geschenken gesammelt haben. Mit all‘ den Dingen konnten wir unsere kleinsten Patienten motivieren sich behandeln zu lassen und auch das ein oder andere Tränchen vergessen lassen. „Vielen Dank“ möchten wir auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sagen, der uns finanziell bei unserer Famulatur unterstützt hat. Ein letztes muchas gracias richten wir an unsere bolivianischen Patienten für das Vertrauen was sie uns entgegengebracht und dass sie unsere Famulatur unvergesslich gemacht haben.
Ein Famulaturbericht von Nadja Smit und Marlou Klein